Matthias Walti | Websites, Webshops und Services

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Mit «Accessibility» zu besseren Websites

Barrierefreiheit im Webdesign

"Websites für Sehbehinderte" gilt bei vielen Webdesignern nicht gerade als cool – bei mir war das bis vor ein paar Monaten nicht anders. Es brauchte zuerst eine Kundenanfrage, bis ich mich für das Thema zu interessieren begann. Dann aber mit zunehmender Begeisterung. Denn viele Regeln für die sogenannte «Barrierefreiheit» kenne ich in sehr ähnlicher Form bereits aus anderen Fachgebieten, wie etwa Typografie, Storytelling, Signaletik oder Suchmaschinen-Optimierung. Deren konsequente Anwendung führt schon fast «automatisch» zu besseren Websites für alle Benutzer.

Das Thema "Barrierefreiheit" selber ist fast so alt wie das Web selber: digitale Inhalte sollen für alle Menschen nutzbar sein, unabhängig von allfälligen Behinderungen jeglicher Art. Eine Sehbehinderung ist dabei nur eine von vielen Einschränkungen. Neben weiteren rein phyisischen Behinderungen gelten auch Leseschwäche oder eine eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit als Bereiche, welche ein gutes Webdesign adressieren kann und muss.

Die vergessene Lesebrille kann für den Moment eine durchaus schwere Behinderung bedeuten

Doch der weit grösste Teil aller Behinderungen ist temporär und können alle Nutzer betreffen: die vergessene Lesebrille. Der gebrochene Arm. Die Müdigkeit nach einem langen Tag. Eingeschränkte Sicht durch starkes Sonnenlicht. Oder die Unmenge an Ablenkungen im Alltag, welche eine volle Konzentration auf das digitale Angebot erschweren.

«Barrierefreiheit» beschreibt das Thema nur unzureichend

Die deutsche Sprache ist präzise. Aber sie bringt auch ausgesprochen sperrige Begriffe hervor. "Barrierefreiheit" zählt für mich definitiv dazu. Das Wort tönt nach Problem und Amtsschimmel (bei Websites im öffentlichen Bereich ist Barrierefreiheit inzwischen oft ein Musskriterium). Persönlich gefällt mir der englische Begriff "Accessibility", also Zugänglichkeit, viel besser.

Und vielleicht liegt es auch daran, dass die beste Literatur zum Thema einmal mehr aus den USA kommt. Man spricht von den Möglichkeiten für alle und nicht über die Probleme einzelner Gruppen. Im deutschen Sprachraum haftet der Barrierefreiheit sogar etwas leicht Gönnerhaftes an: «Seht nur, wir haben keinen Aufwand gescheut, damit auch ihr jetzt unser Angebot nutzen könnt". Bleiben wir deshalb beim Anglizismus "Accessibility".

Was bedeutet Accessibility konkret?

Menschen mit einer physischen Behinderung nutzen Websites oft mit Hilfe von Screenreadern. Je nach Behinderung sind sie nicht in der Lage, eine Mausbewegung auszuführen, können jedoch eine Tastatur bedienen. Benutzer mit einer Leseschwäche oder Konzentrationsschwächen suchen nach optischen "Ankerpunkten" in einem Angebot. Menschen mit Lernschwächen suchen vertrauten Strukturen oder Elementen in einem Angebot. Allen ist gemeinsam, dass sie wissen wollen, wo sie sich befinden, ob die Information diejenige ist, die sie gesucht haben.

Alle Benutzer haben Fragen. Und sie suchen eine konkrete Antwort darauf.

Der entscheidende Punkt ist: sie unterscheiden sich in vielen Punkten überhaupt von "normalen" Nutzern. Aber sie scheitern oft an recht banalen Details: bunte Dateisymbole – etwa in einem Downloadbereich – sind zwar nett anzusehen, doch ein Screenreader kann ein PDF-Piktogramm nicht von einem Symbol für Office-Dokumente unterscheiden. Und das verlinkte Wort "Download" mehrere Dutzend Mal auf einer Liste zu sehen kann verwirrend sein. Download von was denn?

An diesem Punkt setzt gute Accessibility an.

Zugängliche Websites sind vor allem semantisch. Das heisst ganz vereinfacht gesagt: ein Inhalt "weiss" von sich selber, was für ein Inhalt er selber ist: eine Zahl "weiss", dass sie eine Preisangabe oder eben eine Datumsangabe ist. Der Block in der zweiten Spalte "weiss", dass er eine eher unwichtige Kontextinformation ist. Und der Hauptartikel ist auch semantisch als solcher gekennzeichnet.

Alles Websites werden auch von Maschinen gelesen

Spätestens an diesem Punkt kommt die erste Überschneidung mit einem anderen Fachgebiet ins Spiel: denn Google mach als Suchmaschine nichts anderes, als bei Websites zunächst den Inhalt zu analyisieren. Und es ist in der Tat so: der Fokus auf eine hohe Semantik führt praktisch "en passant" auch immer zu einer besseren Platzierung bei Google. Das gleiche gilt für die interne Suche auf einer Website. Die Suchresultate werden relevanter, das Benutzererlebnis besser.

Accessibility geht über webtechnische Fragen hinaus. Die Schnittmenge zu anderen Fachgebieten, etwa der Signaletik oder der Typografie, sind erstaunlich.

Je weiter man sich in das Thema einarbeitet, umso verblüffender werden die Ähnlichkeiten zu weiteren Themen. Denn Accessibility geht weit über rein technische Fragen hinaus und bietet zum Beispiel auch Hilfestellung bei der Strukturierung und dem Erstellen von Inhalten. Auch hier lassen sich zahlreiche Regeln aus dem Bereich Copywriting und Storytelling praktisch 1:1 umsetzen:

  • Der Leadtext enthält 80% der relevanten Informationen.
  • Eine gute Geschichte beginnt immer mit einem Kontext.
  • Schnellleser durchscannen einen Text nach "Ankerwörtern"
  • Der richtige Zeilenabstand ist entscheidend für die Aufnahmefähigkeit von Texten
  • Das menschliche Gehirn ist meisterhaft darin, komplexe Inhalte einfach auszublenden (in der Usability-Forschung spricht man von der sogenannten "Banner Blindness")

Webdesign für Geräte, die es noch gar nicht gibt

Das letztlich überzeugendste Argument, Websites möglichst "accessible" zu entwickeln, ist der Fokus auf die Geräteunabhängigkeit. Heute gilt der Webzugriff über Computer, Tablet oder Smartphone als "courant normal", das sogenannt responsive Webdesign beschränkt sich oft auf die Optimierung für wenige Bildschirmgrössen.

Es gibt keinen besseren Weg, Webites zukunftssicher zu machen, als die Anwendung der Accessibility-Prinzipien.

Doch bereits gibt es intelligente Uhren mit Webzugang. Die Endgeräte der Zukunft werden nur noch teilweise über Maus- oder Fingerbewegungen gesteuert. Die klassische Website für Unternehmen entwickelt sich zum "Hub", der Inhalte für weitere Plattformen bereitstellen kann.

Ein wichtiges Prinzip der Accessibility – eine möglichst geräteunabhängige Aufbereitung der Inhalte – ist deshalb der beste Garant dafür, dass Online-Angebote so zukunftssicher wie möglich sind.

«Accessibility schränkt die Gestaltungsmöglichkeiten stark ein»

Wer sich mit dem Thema beschäftigt, wird eher früher als später auf diese Aussage stossen. Und sie ist nicht grundsätzlich falsch, aber vielleicht aus der falschen Perspektive heraus gestellt.

Es ist in der Tat so, dass oft genutzte Elemente im Webdesign sich nur schlecht mit Accessibility vertragen. Das bekannteste ist wohl der oft genutzte Bild-Slider auf der Startseite von Websites oder die Darstellung von Inhalten in sogenannten "Overlays".

Für wen entwickeln wir digitale Angebote, wenn nicht für den Benutzer?

Anderseits ist es interessant zu beobachten, dass viele dieser Elemente in Usability-Tests auf "normalen" Computern ebenfalls sehr schlecht Beachtungswerte erreichen. Vor allem der Einsatz von Bild-Slidern lässt sich aus Benutzersicht kaum rechtfertigen, da bereits das zweite Bild kaum noch beachtet wird, anderseits aber enorme Konzessionen bei Ladezeit und Gerätekompatibilität erfordert.

Und wenn die Sache auch beim Benutzertest durchfällt: für wen entwickeln wir digitale Angebote, wenn nicht für den Benutzer?

Die Nachteile von Accessibility

Was kann es für Nachteile haben, eine Website für möglichst alle zugänglich zu machen? Auch das ist letztlich eine Frage der Perspektive. Die Gewährleistung einer hohen Accessibilty kann durchaus knifflige Aufgabestellungen mit sich bringen, in einigem Bereichen vielleicht auch technisch schwierig zu lösende Probleme.

Hier gilt es, pragmatisch zu sein: eine durchgehende Accessibilty lässt sich nicht immer zu 100% erreichen. Sie ist auch mehr ein Weg als ein Ziel – wie übrigens alle Fachbücher unisono betonen. Accessibility ist vielmehr ein Prinzip, das Websites für alle Benutzer zugänglicher macht – Maschinen wie Google inklusive. Letzlich gilt auch bei der Accessibility: das allerbeste ist, einfach mal damit anzufangen.

Buchtipp: "A Web for Everyone", Rosenfeld Media